Die Menschen werden vom Krieg erwischt. Da, wo sie gerade sind. Sie fliehen oder bleiben, hampeln oder erstarren, riskieren oder sichern sich ab. Ich vermute jedenfalls, dass sie sich unabhängig von ihrer Wahl oder Wahllosigkeit, wie Schmetterlinge fühlen, die der hereinbrechende Krieg an die Oberfläche der Gegenwart anpinnt. Dabei versuchen sie sich zu lösen und irgendwo zwischen weggerissenerVergangenheit und Zukunft für sich die Spuren vorzubereiten, die als Orientierungszeichen dienen werden. So könnte ich das Bedürfnis beschreiben, sich selbst im Krieg zu fotografieren. Die Kamera trifft auf Schlafplätze, Gärten, andere Menschen, das Alltägliche oder das Radikale. Aus ihrer zufälligen fotografischen Entscheidung kann ich etwas Faktisches erfahren, dazu kommen aber immer auch die Spekulationen über die Intentionen des bedrohten Selbst.
Was sieht ein Mensch im Augenblick des Verlustes? Und im Augenblick der Flucht, einer widerwilligen, schmerzhaften Bewegung? Sind seine Augen auf der Suche, während der restliche Körper sich rettet? Was suchen sie dann?
Je mehr Bilder durch die Katastrophe des Krieges produziert werden, desto schwieriger wird es, nicht wegzuschauen und sie zu fassen. Denn es würde heißen, das Geschehene müsste in den Rahmen gesetzt werden, nicht mehr unbändig sein. Jedes neu gemachte Bild deutet aber die Unendlichkeit von Zerstörungen an, die jenseits des Gesehenen bleiben. Die Selbstreflexion eines Menschen ist wie die Spitze eines Eisbergs: Um mehr von sich zu sehen, müsste man ins frostige Wasser tauchen. Es ist schon zu lange zuviel.
Aber trotz allen physischen Hindernissen strebt man nach Fassbarkeit. Das suchende Auge will, dass die Hand oder eher das Handy ein Stück am Ungewissen schneidet und damit einen Abschnitt der Gegenwart gestaltet. Das Gesehene zu fixieren, wäre dann ein Versuch, sich aus der Vergangenheit rauszuziehen und die Sachen bewusst zu machen, die noch nicht eingeordnet sind. Aber wo ist dabei der oder die Fixierende selbst? In der Kälte, in der Dunkelheit…
Der Wunsch, das zu fotografieren, was gerade untertaucht oder auftaucht, endet mit einem anderen, unkenntlichen Bild, weil man selbst nicht weiß, was man sieht. Genau so befremdlich ist das Kommende, das man mit dem Handy domestizieren möchte. Im Krieg bauen diese Bilder wahrscheinlich eine Art Sumpfsteg für die Evakuierung aus der Gefahr und gleichzeitig aus dem eigenen früheren Leben. Anfang und Ende vermischen sich, aber der Mensch möchte sich auf der glitschigen Spitze des Eisbergs aufrechterhalten und damit auf der eigenen Existenz bestehen.
Er beginnt seine eigene Erzählung. Er spricht für sich und meint unwillkürlich viele andere, die nicht erzählen können. Er ist das Medium seiner selbst, das im engen Rahmen eines schnell gemachten Bildes, eines manchmal geheimen Fotos, seine Existenz sicherstellen kann. Die Bilder lassen sich mit Erzählungen bewachsen und auf diese Weise werden sie klarer, und trotz aller Fragilität kann der Mensch zeugen und berichten. Und sich wieder mit anderen verbinden, indem man Bilder und Worte teilt. Das Leben wird zurückgeholt.
Die Menge von Bildern erinnert mich an eine verstreute Masse von Menschen, die nun mit ihren fragmentierten Biografien, behinderten Körpern oder einer anderen Form radikaler Enteignung leben müssen. Sie müssen auch sich selbst einen Leitfaden zusammenflechten, der sie aus der Dunkelheit rausführt. Vielleicht kann dieser Faden Material für das künftige Lebensgewebe sein. Oder auch Stoff, der mit seinem Übermaß private und öffentliche Archive in die Luft sprengt.
Kateryna Mishchenko, 4/2023
photo: Kristina Galchuk / See what I see